Das neue Tarifeinheitsgesetz: Kein Allheilmittel gegen Streiks in Einrichtungen der Daseinsvorsorge

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Die Streikkaskaden bei der Deutschen Bahn haben die Nerven vieler Bürger strapaziert, genauso wie die Arbeitskämpfe bei Post, Luftfahrt und Kinderbetreuungseinrichtungen. Doch jetzt hat die Große Koalition das umstrittene Tarifeinheitsgesetz auf den Weg gebracht, das am 12.6.2015 den Bundesrat durchlief und bereits im Juli in Kraft treten soll. Ob das Gesetz verfassungsmäßig ist, wird bekanntlich angezweifelt. Doch selbst wenn ja: Ist die Hoffnung vieler Interessenvertreter und Bürger berechtigt, dass solche Streiks, die zentrale Versorgungsbedürfnisse der Bürger empfindlich stören und vor allem unbeteiligte Dritte betreffen, künftig erschwert werden? Oder sind weitere gesetzliche Spielregeln zumindest für den Bereich der Daseinsvorsorge nötig, wie sie die Bayerische Staatsregierung gerade vor wenigen Tagen in den Bundesrat eingebracht hat?

Der Grundsatz der Tarifeinheit und das neue Gesetz

Der Grundsatz der Tarifeinheit („ein Betrieb, ein Tarifvertrag“) ist keine neue Idee der Großen Koalition, sondern galt in Deutschland fast 50 Jahre lang als fester Rechtsprechungsgrundsatz, bis das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Jahr 2010 dieses Prinzip kippte und den Weg zur „Tarifpluralität“ – Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb – ebnete. Agieren dort konkurrierende Gewerkschaften, kann es zu solchen Kollisionen führen. So legte die GDL mit ihren wiederholten Lokführerstreiks einen gesamten Betrieb weitgehend lahm, um einen eigenen Tarifvertrag zu erreichen, obwohl sie nur einen relativ kleinen Teil der Belegschaft vertritt.

Um künftige Tarifkollisionen dieser Art zu verhindern, will der Gesetzgeber mit dem neuen Gesetz wieder zum Grundsatz der Tarifeinheit zurückkehren. Dabei soll im Falle mehrerer beteiligter Gewerkschaften der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten, der die meisten Mitglieder im Betrieb angehören. Diese Regelung soll jedoch nur dann greifen, wenn sich die konkurrierenden Gewerkschaften nicht selbstständig darüber einigen können, welcher Tarifvertrag für die jeweilige Berufsgruppe gelten soll. Damit soll der Druck auf konkurrierende Gewerkschaften erhöht werden, sich untereinander gütlich zu einigen und so erneute Streikszenarien wie bei der Deutschen Bahn zu verhindern.

Auswirkungen auf das Streikrecht

Zwar verbietet das neue Gesetz Streiks von Minderheitsgewerkschaften nicht ausdrücklich. Wird aber nach dem neuen Tarifeinheitsgesetz der Tarifvertrag einer kleineren Gewerkschaft verdrängt, läuft dieser ins Leere. Nach dem 2010 ergangenen Urteil des BAG tangiert dies die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG – und zwar sowohl die kollektive Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Gewerkschaft als auch die individuelle Koalitionsfreiheit des einzelnen Gewerkschaftsmitglieds.

Das BAG sah im Jahr 2010 für diese Einschränkungen keine ausreichende Legitimation, und zwar schon deshalb, weil sie bis damals nicht auf formaler Gesetzgebung, sondern nur auf Richterrecht basierten. Dies war als Aufforderung an den Gesetzgeber zu verstehen, die Tarifeinheit gegebenenfalls als formales Gesetz wieder einzuführen, wenn sie politisch weiterhin gewünscht sein sollte. Dies griff die Große Koalition auf, obwohl über die mögliche Verfassungswidrigkeit des neuen Gesetzes heftig diskutiert wurde. Es liegen sogar verschiedene Gutachten namhafter Autoren vor, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, und auch Verfassungsbeschwerden sollen bereits vorbereitet sein – die Entscheidung über den Bestand des neuen Gesetzes liegt daher nun in den Händen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).

Erschwert das neue Gesetz künftige Streiks in der übrigen Daseinsvorsorge?

Jenseits der aktuellen Konflikte zwischen GDL und der Deutschen Bahn fragt sich, was das Tarifeinheitsgesetz für sonstige Zweige der sogenannten Daseinsvorsorge bedeutet. Das sind nicht nur die aktuell bestreikten Bereiche Luftverkehr, Kinderbetreuung und Post, sondern auch Gesundheitsversorgung, sonstige Verkehrswege, Wasser- und Energieversorgung sowie Abfallentsorgung, in denen Konflikte wegen Tarifkollisionen bislang kaum virulent geworden sind, obwohl dort seit 2010 ebenfalls Tarifpluralität gilt.

Wenn etwa verschiedene Tarifverträge des kommunalen Sektors wie TVöD, TV-V und der Spartentarifvertrag Nahverkehr (TV-N) nebeneinander existieren, braucht es hier schon deshalb keine Auflösung von Kollisionen, weil diese Tarifverträge von denselben Tarifvertragsparteien geschlossen wurden. Das Tarifeinheitsgesetz muss erst gar nicht eingreifen und Tarifverträge verdrängen. Tatsächlich haben die anderen Streiks, die aktuell neben den Bahnstreiks der GDL abliefen, andere, „klassische“ Ursachen und Ziele als die Tarifpluralität bzw. Interessen von Spartengewerkschaften. Somit wird das neue Gesetz die Streikpraxis in den übrigen Unternehmen der Daseinsvorsorge kaum einschränken.

Sind gesetzliche Streikregeln zur Sicherung der Daseinsvorsorge nötig?

Allerdings war auch jüngst wieder festzustellen, dass speziell Streiks in der Daseinsvorsorge neben dem jeweiligen Arbeitgeber in erheblichem Maße unbeteiligte Dritte treffen. Daher fordern manche Vertreter der Wirtschaft schon länger, das Streikrecht in diesem Bereich zu beschränken. Andere Interessenvertreter, insbesondere solche aus dem arbeitnehmernahen Lager, warnen eindringlich vor solchen Streikeinschränkungen für bestimmte Berufsgruppen, nicht nur wegen verfassungsrechtlicher Zweifel, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Erwägungen. Die Bayerische Staatsregierung hat nun das Heft in die Hand genommen und am 16.6.2015 eine Entschließung des Bundesrates zur Regelung des Streikrechts in Bereichen der Daseinsvorsorge gestartet. Damit soll für diese Bereiche wie unter anderem die Energie- und Wasserversorgung und die Entsorgung ein obligatorisches Schlichtungsverfahren, eine Ankündigungsfrist von 4 Tagen sowie eine vorherige „Vereinbarung zur Mindestversorgung“ mit Vorlage eines „konkreten Streikfahrplans“ gesetzlich vorgeschrieben werden.

Dazu ist zu beachten, dass das eigentliche Arbeitskampfrecht in Deutschland bislang gar nicht gesetzlich geregelt ist, sondern auf Richterrecht basiert. Dieses ist durch die sorgfältige Abwägung der berechtigten Interessen der Arbeitskampfparteien und Dritter geprägt und dabei wiederum maßgeblich durch das „Ultima-Ratio-Prinzip“ beeinflusst. Danach gilt schon jetzt zumindest für diejenigen Bereiche der Daseinsvorsorge, die für die Lebensführung notwendige Dienstleistungen sicherstellen müssen wie zum Beispiel die Versorgung mit Wasser und Energie, dass Streiks nur als letztes Mittel in Frage kommen und zudem immer eine Notversorgung berücksichtigen müssen.

Auch wenn der Rechtsprechung wie auch den beteiligten Tarifparteien bisher überwiegend ein gutes Augenmaß und genügend Sensibilität zu bescheinigen ist, wären gesetzliche Vorgaben schon aus Gründen der Rechtsklarheit wie auch der Versorgungssicherheit zu begrüßen. Die aktuelle Initiative aus Bayern ist daher jedenfalls ein wichtiger erster Schritt. Wie beim Tarifeinheitsgesetz bleibt allerdings abzuwarten, ob nicht nur der notwendige politische Konsens, sondern auch eine rechtlich haltbare Lösung gelingt, die letztlich auch einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit in Karlsruhe standhält.

Ansprechpartner: Dr. Jost Eder/Bernd Günter

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