BGH: Ansprüche auf individuelles Entgelt für singulär genutzte Betriebsmittel gelten rückwirkend

(c) BBH
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Bislang war regulierungsbehördlich anerkannt, dass individuelle Netzentgelte für singulär genutzte Betriebsmittel ab Vereinbarung in die Zukunft wirken. Das wird jetzt anders. Künftig sollten Netzbetreiber jedem Kunden, der über singulär genutzte Betriebsmittel angeschlossen wird und für den das individuelle günstiger ist als das allgemeine Entgelt, von sich aus das besondere Entgelt anbieten. Das ist die Folge eines neuen Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH), der abweichend von der bislang anerkannten Praxis einen Anspruch auf Rückwirkung des vereinbarten Entgeltes auf den Zeitpunkt des erstmaligen Vorliegens der besonderen Anschlusssituation bejaht hat.

Der BGH hat mit der Entscheidung vom 15.12.2015 (Az. EnZR 70/14) das vorinstanzliche Urteil des Oberlandesgerichts Dresden (Az. 9 U 1224/13) in allen Punkten bestätigt. Wörtlich heißt es in der Entscheidung des BGH:

„Um […] dem Anliegen des § 19 Abs. 3 StromNEV zu genügen, ist es daher Aufgabe des Netzbetreibers, auf eigene Initiative die entsprechenden Feststellungen zur Anschlusssituation zu treffen und dem Netznutzer eine Vereinbarung über ein individuelles Netzentgelt anzubieten.“

Der BGH erkennt dabei durchaus, dass ein Anspruch auf rückwirkende Vereinbarung eines individuellen Netzentgelts in bereits abgeschlossene und abgerechnete Zeiträume eingreift. In dem aktuell geltenden System der Anreizregulierung kann dies zu großen Schwierigkeiten führen, weil darin die Möglichkeit des Abgleichs der vom Netzbetreiber zulässigerweise zu erzielenden Erlöse mit den tatsächlich erzielten Erlösen insbesondere in zeitlicher Hinsicht abschließend geregelt ist. Die Interessen des Netzbetreibers hätten aber hinter denen des Netznutzers zurückzutreten, da

„die Details der Anschlusssituation und damit das Vorliegen der Voraussetzungen des § 19 Abs. 3 dem Netzbetreiber regelmäßig – und zwar bereits zu Beginn eines Rechnungsjahres – bekannt sind, sodass er diese bei der Kalkulation seiner Netzentgelte berücksichtigen kann.“

Der BGH verweist darauf, dass der Anspruch des Netznutzers innerhalb von drei Jahren verjährt. Die Verjährung beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

Für Netzbetreiber problematisch ist, dass Kunden, die die Voraussetzungen immer schon erfüllten, eine rückwirkende Anwendung fordern können, die im Einzelfall bis zum Inkrafttreten der StromNEV im Jahr 2005 zurückreichen kann. Denn die oben angesprochene Verjährungsfrist beginnt nach der Entscheidung des BGH erst dann zu laufen, wenn dem jeweiligen Kunden das Vorliegen der Voraussetzungen des § 19 Abs. 3 StromNEV positiv bekannt war oder die Unkenntnis auf seiner Fahrlässigkeit beruht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Voraussetzungen oft nicht klar und einfach bejaht oder verneint werden können. Gerade bei Kunden, die über Direktleitungen an nicht eigensichere Umspannstationen oder im vermaschten Niederspannungsnetz direkt an Ortsnetzstationen angeschlossen sind, ist die Einordnung umstritten.

Was ist zu tun?

Netzbetreiber müssen (spätestens) jetzt überprüfen, ob die Anschlüsse ihrer (Bestands- und Neu-)Kunden die Tatbestandsvoraussetzungen des § 19 Abs. 3 StromNEV erfüllen.

Die nächsten Schritte hängen vom Einzelfall ab. Insbesondere Rückzahlungen auch für die Vergangenheit in größerem Umfang sollten vorab mit der zuständigen Regulierungsbehörde abgestimmt und die hieraus resultierenden Erlösausfälle über das Regulierungskonto abgewickelt werden.

Ist die Entscheidung auf die anderen Sonderentgelte des § 19 StromNEV übertragbar? Das ist eher unwahrscheinlich. Der BGH argumentiert damit, dass die für § 19 Abs. 3 StromNEV maßgebliche besondere Anschlusssituation typischerweise nur dem Netzbetreiber, nicht aber dem Kunden bekannt ist. Das für die weiteren individuellen Netzentgelte des § 19 Abs. 1 StromNEV (Monatsleistungspreis) und § 19 Abs. 2 StromNEV (atypische oder intensive Netznutzung) maßgebliche prognostizierte besondere Verbrauchsverhalten ist dagegen dem Kunden bekannt und vom Netzbetreiber nicht beeinflussbar. Ausgeschlossen werden kann es jedoch nicht, dass auch eine Übertragbarkeit auf die anderen Entgelte gefordert wird.

Ansprechpartner: Dr. Christian de Wyl/Stefan Missling/Dr. Thies Christian Hartmann

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