Gefäßkrankheiten sind gefährlich: Zum Stromnetz und seinen Tücken

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Das Stromnetz in Deutschland mit seinen sieben Netzebenen lässt sich in seinem filigranen Aufbau und seiner Komplexität durchaus mit dem menschlichen Blutgefäßsystem vergleichen. Wie die Arterien den Körper bis in die Fingerspitzen jede Sekunde mit Blut versorgen, transportiert das Elektrizitätsnetz kontinuierlich Strom bis in den letzten Winkel Deutschlands – und wie das Blutgefäßsystem handelt es sich beim Stromnetz um ein störanfälliges System.

Es gibt aber nicht nur Arterien, sondern auch Venen: Anders als früher, als es nur um die Verteilung von Strom aus zentralen, steuerbaren Großkraftwerken an die Verbraucher ging, werden jetzt Erneuerbare Energien überall im Land erzeugt. Strom muss somit von überallher an jeden denkbaren Ort transportiert werden. Dass es hierbei nicht zum Infarkt kommt, stellt das Netz in Zeiten dezentraler Energieversorgung jeden Tag vor neue Herausforderungen.

Verantwortlich dafür, dass dies sicher und zuverlässig klappt, sind die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) in Zusammenarbeit mit den Betreibern nachgelagerter Netze (vgl. §§ 12 Abs. 1 bis 3, 13, 14 EnWG) – und die haben alle Hände voll zu tun, wie der am 7.12.2015 erschienene Quartalsbericht zu Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen der Bundesnetzagentur (BNetzA) für die ersten beiden Quartale 2015 belegt: Immer häufiger kommt es zu Überlastungen von Leitungen und Betriebsmitteln.

Den verantwortlichen Netzbetreibern steht dabei ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Verfügung. Wenn die netztechnische Umleitung des Stroms keine Abhilfe verspricht, können einzelne Erzeugungsanlagen (zwangsweise) abgeregelt werden. Hier wird die Sache sogar noch komplizierter als beim menschlichen Körper, denn Effektivität ist nicht das oberste Gebot. Vielmehr müssen etliche Faktoren, wie die Rechte der Kraftwerksbetreiber oder der Einspeisevorrang von KWK-Strom und Erneuerbaren Energien, beachtet werden. Bei der Steuerung konventioneller Erzeugung (gemeinhin als Redispatch bezeichnet) haben die Eingriffe der Netzbetreiber in die Fahrweise der Kraftwerke im ersten Halbjahr 2015 mit 5.253 GWh bereits die Gesamtmenge des Jahres 2014 (5.197 GWh) überschritten, wie die BNetzA in ihrem Bericht mitteilt. Auch die erwarteten Kosten in Höhe von 253 Mio. Euro liegen der BNetzA zufolge in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits deutlich über den von den Netzbetreibern gemeldeten Kosten des Vorjahres in Höhe von 187 Mio. Euro.

Nicht anders sieht es bei der Abregelung von KWK-Strom und Erneuerbaren Energien aus. Im selben Zeitraum wurden hier 1.464 GWh abgeregelt, was 93 Prozent der Gesamtausfallarbeit des Vorjahres entspricht. Allein für die ersten sechs Monate von 2015 müssen die Netzbetreiber hierfür schon 149 Mio. Euro an Entschädigungen aufwenden. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht. Denn der Netzausbau hinkt dem Ausbau der Erneuerbaren Energien weiterhin stark hinterher. Auch die in der Novelle des Strommarktgesetzes (wir berichteten) geplante „3-Prozent-Regelung“, wonach das Netz nicht bis auf die letzte Kilowattstunde ausgebaut werden muss, sondern Anlagen bei nicht ausgebautem Netz entschädigungspflichtig abgeregelt werden können, wird zum weiteren Anstieg dieser Maßnahmen beitragen.

Vor diesem Hintergrund fragen sich viele Kraftwerksbetreiber zunehmend, wie sie angesichts solcher Maßnahmen einen planbaren und nach Möglichkeit wirtschaftlichen Kraftwerksbetrieb sicherstellen können. Denn die Entschädigungszahlungen decken in der Praxis nicht in jedem Fall die gesamten Kosten, die zum Beispiel mit der Abschaltung eines KWK-Kraftwerks einhergehen. Hier werden sich Netzbetreiber und Kraftwerksbetreiber verständigen müssen, wie die Systemsicherheit auch in Zukunft gewährleistet werden kann, ohne unangemessen in die Rechte der Kraftwerksbetreiber einzugreifen. Auch die gesetzlich bislang ungeklärte Frage der Abschaltreihenfolge wird vor diesem Hintergrund zunehmend an Relevanz gewinnen.

Ansprechpartner: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Michael Weise/Dr. Wieland Lehnert/Dr. Tigran Heymann

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