Mehr- und Mindermengenabrechnung Strom: neuer Ärger mit der Umsatzsteuer

(c) BBH
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Wie ist der Ausgleich von Mehr- und Mindermengen Strom umsatzsteuerlich zu behandeln? Schwierigkeiten macht bei dieser Frage vor allem die Anwendbarkeit des so genannten Reverse-Charge-Verfahrens, bei dem der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer schuldet und nicht der Leistende. Das gilt auch bei inländischen Stromlieferungen an Unternehmen, die den Strom im Wesentlichen weiterverkaufen. Der Haken dabei: Kann man den Ausgleich von Mehr- und Mindermengen als „Lieferung“ betrachten?

Auf den ersten Blick scheint diese Frage gegenwärtig geklärt. Mit Schreiben vom 19.9.2013 (Az. IV D 3 – S 7279/12/10002) hatte das Bundesministerium der Finanzen (BMF) für eine Vielzahl von energiewirtschaftlichen Sachverhalten Stellung dazu genommen, ob es sich jeweils um eine Lieferung oder sonstige Leistung handelt. Seit dem 1.7.2014 hat der Abschnitt 13b.3a Abs. 5 UStAE folgenden Wortlaut:

„Lieferungen von Elektrizität sind auch:
Nr. 5: Ausgleich von Mehr- und Mindermengen (Vgl. Abschnitt 1.7 Abs. 4)“

Das klingt eigentlich eindeutig. Das Problem ist der Klammerzusatz, der zu Unsicherheiten führt, weil sich Abschnitt 1.7 Abs. 4 UStAE ausschließlich mit der MMMA Gas befasst. Manche halten dies für ein bloßes redaktionelles Versehen. Nichtsdestotrotz hätte das BMF nunmehr ein ganzes Jahr Zeit gehabt, den evtl. bestehenden Fehler richtig zu stellen.

Da die Rechtslage, ob das Reverse-Charge-Verfahren zur Anwendung kommen kann, daher weiterhin als unsicher gelten muss, sollten die Vertragsparteien die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens sicherheitshalber einvernehmlich vorab vereinbaren und die zutreffende Versteuerung zusichern, wenn keine Zweifel an der Wiederverkäufereigenschaft der Vertragsparteien besteht. Rechtsgrundlage für unsere Einschätzung ist hierbei § 13b Abs. 5 S. 7 UStG:

„Sind Leistungsempfänger und leistender Unternehmer in Zweifelsfällen übereinstimmend vom Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 2 Nummer 4, 5 Buchstabe b, Nummer 7 bis 11 ausgegangen, obwohl dies nach der Art der Umsätze unter Anlegung objektiver Kriterien nicht zutreffend war, gilt der Leistungsempfänger dennoch als Steuerschuldner, sofern dadurch keine Steuerausfälle entstehen.“

Nach Abschnitt 13b.8 Abs. 2 UStAE gilt diese Vereinfachungsregelung nicht für Fälle, in denen Unsicherheiten über die Person der beteiligten Personen (z.B. Wiederverkäufereigenschaft) bestehen. Daher ist die Vorlage der Wiederverkäuferbescheinigung von fundamentaler Bedeutung.

Anders sieht es aber für die Zukunft aus. Die Vorgaben zur künftigen Marktkommunikation für die Umsetzung der einheitlichen MMMA Strom und Gas schaffen andere Fakten. Und die können nur zu einer umsatzsteuerlichen Einordnung des Ausgleichs von MMM (Mehr-/Mindermengen) im Strom als „sonstige Leistung“ statt als „Lieferung“ führen.

Die MMMA ist ab dem 1.4.2016 ausschließlich elektronisch umzusetzen. Die MMM werden mit weiterentwickelten INVOIC-Nachrichten in Rechnung gestellt. Rechnungssteller ist wegen der Vorgaben in § 13 StromNZV und § 25 GasNZV stets der Verteilernetzbetreiber. Die erforderlichen Anpassungen der Datenformate treten zum 1.10.2015 in Kraft. Die Einspruchsfrist ist nach dem sog. Änderungsmanagement allerdings bereits am 1.4.2015 abgelaufen.

Das neue Anwendungshandbuch „INVOIC / REMADV AHB 2.3“ (konsolidierte Lesefassung mit Fehlerkorrektur vom 22.5.2015) kennt grundsätzlich sechs unterschiedliche Rechnungsarten, u. a. „MMM-Rechnung Strom + Gas“ und „MMM-selbstausgestellte Rechnung Gas“. Während erstere dazu da ist, ungewollte Mindermengen Strom und Gas in Rechnung zu stellen, kann die zweitere zur Gutschrift ungewollter Mehrmengen genutzt werden, dieses aber nur im Gas.

Angewendet auf die Abrechnung ungewollter Mehrmengen, die dem Lieferanten (kaufmännisch) vom Verteilernetzbetreiber zu erstatten sind, bedeutet dieses, dass die Vorgaben für die Marktkommunikation im Bereich Gas von einer Leistung des Lieferanten ausgehen, die umsatzsteuerlich aufgrund des BMF-Schreibens vom 1.7.2014 zweifelsfrei als Lieferung einzustufen ist. Im Bereich Strom soll es sich hingegen bei ungewollten Mehrmengen offenbar um eine Leistung des Verteilernetzbetreibers handeln, da eine Gutschrift nicht zugelassen ist (es wäre vielmehr eine Rechnung mit negativem Vorzeichen). Die Marktkommunikation sieht Mehrmengen Strom konsequenterweise umsatzsteuerlich nicht als Lieferung (des Verteilernetzbetreibers), sondern als eine sonstige Leistung an.

Umsatzsteuerliche Risiken bei der Abrechnung von Mehrmengen

Die Risiken für den Verteilernetzbetreiber auf Grund der neuen Vorgaben für die Marktkommunikation werden an folgendem Beispiel deutlich: Ein Verteilernetzbetreiber erhält eine Mehrmenge im Wert von 1.000 Euro netto. Aufgrund der Vorgaben für die Marktkommunikation rechnet der Verteilernetzbetreiber diese als negative sonstige Leistung gegenüber dem Lieferanten ab. Das Reverse Charge-Verfahren kann nicht angewendet werden. Da es sich um eine steuerpflichtige sonstige Leistung handelt, ist diese ebenfalls der Umsatzsteuer zu unterwerfen (19 %). Daraus ergibt sich für den Lieferanten eine Forderung in Höhe von 1.190 Euro, die vom Verteilernetzbetreiber ausgezahlt wird. Der Verteilernetzbetreiber wird den Umsatzsteuerbetrag in Höhe von 190 Euro als Minderung seiner Umsatzsteuerzahllast gegenüber seinem Finanzamt geltend machen und somit erstattet bekommen.

Wenn nun das Finanzamt diese umsatzsteuerliche Einordnung als sonstige Leistung nachträglich beanstandet, etwa weil es dem Wortlaut des UStAE folgt, und die vorgenommene Minderung der Umsatzsteuerzahllast zuungunsten des Verteilernetzbetreibers rückgängig macht, muss er vom Lieferanten die bereits ausgezahlte Umsatzsteuer von 190 Euro zurückfordern. Damit trägt der Verteilernetzbetreiber im Insolvenzfall unter Umständen ein beträchtliches finanzielles Risiko. Darüber hinaus wäre auch die Verzinsung der Steuernachforderung nach § 233a AO zu beachten.

Solcherlei Risiken bestehen allerdings dann nicht, wenn die Mehr-/Mindermengenabrechnung Strom umsatzsteuerlich als Lieferung eingeordnet wird und eine Besteuerung im Wege des Reverse-Charge-Verfahrens erfolgt.

Um auf unser Beispiel zurückzukommen: Der Verteilernetzbetreiber erhält vom Lieferanten eine Mehrmenge im Wert von 1.000 Euro netto. Unabhängig etwaiger Vorgaben für die Marktkommunikation erhält der Verteilernetzbetreiber eine Stromlieferung vom Lieferanten. Sind beide Unternehmer Wiederverkäufer, ist diese Leistung im Wege des Reverse-Charge-Verfahrens ohne gesonderten Umsatzsteuerausweis abzurechnen (1.000 Euro netto). Die Abrechnung erfolgt als umsatzsteuerliche Gutschrift, aus der für den Lieferanten ein „Guthaben“ von 1.000 Euro resultiert, das vom Verteilernetzbetreiber ausgezahlt wird. Der Verteilernetzbetreiber muss als Steuerschuldner den Umsatzsteuerbetrag in Höhe von 190 Euro in seiner Umsatzsteuervoranmeldung berücksichtigen. Er kann allerdings hierzu einen gleichhohen Vorsteuerabzug geltend machen.

Wird die umsatzsteuerliche Einordnung durch die Steuerpflichtigen als „Lieferung“ von der Finanzverwaltung nachträglich korrigiert und eine sonstige Leistung angenommen, führt dies also unter Zugrundelegung der Nichtbeanstandungs-/Vereinfachungsregelung zu keinen Anpassungen bzw. Abwicklungsrisiken. Auch für das Finanzamt drohen in dieser Fallkonstellation keine Steuerausfälle.

Fazit: Wie die MMMA im Bereich Strom umsatzsteuerlich zu behandeln ist, ist nach wie vor ungeklärt. Daher muss bis zu einer eindeutigen Positionierung der Finanzverwaltung jeder Steuerpflichtige die möglichen Risiken abwägen, wenn er sich für die Einordnung als Lieferung oder sonstige Leistung entscheidet. Vielfach wird man sich hier für eine Befolgung des Wortlauts des UStAE entscheiden und somit von einer Lieferung ausgehen. Eine Vorabfestlegung durch Vorgaben zur Marktkommunikation ist hiermit unvereinbar, zumal diese nicht mit der Finanzverwaltung abgestimmt sind.

Die an die Marktkommunikation gebundenen Verteilernetzbetreiber laufen also Gefahr, falls die Finanzverwaltung an ihrer Bewertung von MMM als „Lieferung“ festhält, sehenden Auges wirtschaftliche Nachteile (Insolvenz- und Zinsrisiko) zu erleiden. Daher sollte dringend Kontakt zu der für die Marktkommunikation zuständigen Beschlusskammer der BNetzA aufgenommen und die Problemlage diskutiert werden. Unseres Erachtens müssen die Vorgaben für die Marktkommunikation zur Abwicklung der MMMA im Bereich Strom angepasst werden. Selbst wenn mit der BNetzA keine zufriedenstellende Lösung gefunden werden kann, werden jedenfalls Argumente für die Berücksichtigung etwaiger Nachteile in der Anreizregulierung geschaffen.

Ansprechpartner: Jürgen Gold/Jan-Hendrik vom Wege/Klaus-Peter Schönrock

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