Mutter Courage und ihre Kinder: Schadenersatz im Kartellrecht nach dem BGH

Kartelle werden gebildet, damit sie sich lohnen. Kann der Kartellgewinn durch einen Schadensersatzanspruch abgeschöpft werden, schwinden die Anreize, sich zu kartellieren. Deswegen war es ein Durchbruch, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2001 in der berühmten Courage-Entscheidung feststellte, dass jeder durch ein Kartell Geschädigte von den Kartellbeteiligten Schadensersatz verlangen kann. Mutter Courage übertrug den nationalen Gerichten die Aufgabe, diesen Anspruch umzusetzen. Wie im Brechtschen Theaterstück müssen daher die Kinder die Tugenden ausfüllen, die das Gemeinschaftsrecht nur unvollständig regelt.

Im Sommer hat der Bundesgerichtshof (BGH), erstmals zu der Frage Stellung genommen, wer Schadensersatz von der Partei einer Kartellvereinbarung verlangen kann. Gleichzeitig hat das oberste deutsche Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit festgestellt, dass der Schaden durch eine so genannte Vorteilsausgleichung gemindert werden kann. Wer die kartellbedingt überhöhten Preise an seine Abnehmer durchreichen konnte, dem ist insoweit kein Schaden entstanden. Das sind gewichtige Aussagen, in denen mehr steckt, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Ungewöhnlich dabei: Die Gründe der ORWI-Entscheidung wurden erst vor wenigen Tagen veröffentlicht und damit fast fünf Monate nach der Urteilsverkündung. Offenbar hat man in Karlsruhe um die Gründe gerungen.

Worum ging es?

Der Beklagte war knapp vier Jahre an einem Preiskartell beteiligt. Die Beteiligten stellen Selbstdurchschreibepapier her und vereinbarten (man mag es kaum glauben) untereinander die Preise für diese Erzeugnisse. Die Europäische Kommission verhängte deswegen ein Bußgeld, wobei dem Beklagten allein immerhin 33 Mio. Euro auferlegt wurden. Das Verfahren nahm seinen üblichen Lauf. Die Beteiligten kooperierten mit der Kommission, um diese milde zu stimmen. Nach dem Bußgeldbescheid wurden mannigfaltige Verfahrensbeschwerden erhoben, über die schließlich auch der EuGH entschied. Der EuGH bestätigte die Bußgeldentscheidung gegenüber dem Beklagten.

Danach ging das Verfahren in die nationale Runde. Ein mittlerweile insolventes Druckereiunternehmen bezog Papier von der Beklagten. Es trat einer Sparkasse seinen kartellrechtlichen Deliktsanspruch ab, die darauf von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von 223.540,26 Euro verlangte. Die Erstinstanz, das LG Mannheim, wies die Klage ab (Az. 22 O 74/04 Kart.). In der Berufungsinstanz gab das OLG Karlsruhe dagegen der Klage in Höhe von 100.000 Euro statt. In dem Verfahren wurde darüber gestritten, ob und in welcher Höhe ein Schaden entstanden sei. Das OLG machte nicht viel Federlesens. Es komme nicht darauf an, ob der Geschädigte den Schaden an seine Abnehmer weiterreichen konnte. Eine derartige Anrechnung – juristisch: Vorteilsausgleichung – widerspräche dem Abschreckungseffekt des Kartelldeliktsrechts.

Dies sah der BGH anders und verwies an die Berufungsinstanz zurück.

Jedermann als Anspruchsinhaber

Bedeutsam sind die Ausführungen des BGH dazu, wer einen Schadensersatzanspruch gegen einen „Kartellbruder“ geltend machen kann. Es sind danach alle Marktteilnehmer, auf deren Kosten das kartellrechtlich verbotene Verhalten geht, also nicht nur die Abnehmer des Kartells, sondern auch deren Abnehmer usf. Die Entscheidungsgründe verwenden eine außerordentliche Sorgfalt darauf, diese Ansicht zu begründen. Im Kern argumentiert der BGH dabei, dass es aufgrund der Bedeutung des Kartellverbots für die Wirtschaftsordnung geboten sei, denjenigen gesetzestreuen Marktteilnehmern deliktsrechtlichen Schutz zu gewähren, auf deren Kosten ein kartellrechtlich verbotenes Verhalten praktiziert wird. Damit stützt sich der BGH auf den europäischen Rechtsgrundsatz des effet utile, aus dem der EuGH 2006 in der viel zitierten Manfredi–Entscheidung abgeleitet hat, dass jedermann den Schaden geltend machen könnte, der ihm durch ein Kartell entstanden ist. Danach könnte theoretisch auch der Verbraucher als Endabnehmer anspruchsberechtigt sein.

Kartellierung als Schadensursache

Der BGH schneidet hier einen alten Zopf ab, nämlich die traditionelle Ansicht, dass nur derjenige Schadensersatz von den Kartellanten verlangen können soll, der durch das Kartell „gezielt geschädigt“ wurde. Künftig kann also jeder einen Schadensersatz verlangen, der darlegen kann, dass zwischen dem Kartell und seinem Schaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Das ist allerdings nicht einfach: Die Verknüpfung zwischen verbotenem Verhalten und einem entstandenen Schaden bereitet Kopfzerbrechen und zerfasert sich in ein kaum überschaubares Fallrecht. Der anspruchsberechtigte „Jedermann“ muss nachweisen, dass er durch einen kartellbedingten Preisaufschlag eine Vermögenseinbuße erlitten hat. Der BGH betont dabei, dass ein Ursachenzusammenhang nicht zu vermuten sei, wenn eine Preiserhöhung auf den nachgelagerten Märkten sich an eine kartellbedingte Preiserhöhung anschließe – zu Recht, denn sonst käme man zu einem kartellrechtlich veranlassten Verbot, die Preise zu erhöhen. Vielmehr, so der BGH, kommt es auf die Preiselastizität, die Dauer des Verstoßes und die Wettbewerbsintensität auf der nachgelagerten Marktstufe an. Das erlaubt Wertungen im Einzelfall. Entrichten die meisten Unternehmen auf der nachgelagerten Marktstufe den Kartellpreis und haben deren Abnehmer keine Ausweichmöglichkeiten, soll die Kostenüberwälzung kausal sein. Wenn mit anderen Worten weder die Abnehmer der Kartellanten noch die weiteren Abnehmer wählen können, beruht der erhöhte Preis auf einer verbotenen Kartellabsprache. Im konkreten Sachverhalt konnte nachgewiesen werden, dass die Herstellerabgabepreise sanken, so dass kein Anlass für eine Preiserhöhung der Hersteller bestand und auch kein Anlass dafür, den erhöhten Preis an die Abnehmer durchzureichen.

Zur Vorteilsausgleichung oder „neudeutsch“: passing-on defense

Neben der Frage der Anspruchsberechtigung stellte sich dem BGH ein weiteres Problem: Was, wenn der Zwischenhändler wegen des Kartells zwar überhöhte Preise bezahlt hat, aber diese an seinen Abnehmer weiterreichen konnte? Dann hätte er gleichsam selbst von dem Kartell profitiert, und sein Schaden fiele entsprechend geringer aus. Kann der Kartellamt dies gegen den Schadensersatzanspruch einwenden, und was muss er dafür beweisen?

Dass der Schaden durch einen Vorteil des Geschädigten teilweise kompensiert werden kann, war schon im römischen Recht bekannt. Letztlich wird es darauf ankommen, ob der erhöhte Abgabepreis des Händlers wettbewerbskonform ist. Beruht er auf einer eigenen Leistung des Händlers, wird man ihm den Schadensersatzanspruch gegen die Kartellanten nicht verwehren können. Entscheidend ist damit die Beweislast. Dabei haben die Kartellteilnehmer laut BGH nachzuweisen, dass

  1. eine Weiterwälzung des Schadens in Betracht kommt,
  2. keine Nachteile in Form eines Nachfragerückgangs gegenüberstehen und, dass
  3. ein eigener Wertschöpfungsanteil des Weiterverkäufers ausscheidet. Mit anderen Worten müssen sie nachweisen, dass der Händler/Weiterverkäufer den erhöhten Preis „ohne Not“ durchgereicht hat.

Dies wird den Kartellanten zwar Schwierigkeiten bereiten. Indes ist der BGH zu Recht zurückhaltend und will hier Beweiserleichterungen nur bei einer größeren Beweisnot der Kartellteilnehmer anerkennen. Dabei geht der BGH sogar so weit, dass er im Regelfall eine Beweisnot sogar dann verneint, wenn sich der Kartellamt durch eine Streitverkündung gegenüber den Abnehmern anderer Marktstufen vor doppelter Inanspruchnahme schützen kann. Donnerwetter.

Ansprechpartner: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Tigran Heymann

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