Was tun, damit das Licht nicht ausgeht?

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Jahrelang hat sich kaum jemand für Netzstabilität interessiert. Die Energiewende als Ziel war präsent; über den Weg dahin zerbrach man sich nur vereinzelt den Kopf. Doch nun ändert sich das: In den vergangenen Wochen hat es die Frage, ob uns womöglich das Licht ausgeht, unter die populärsten Themen von Politik und Medien geschafft. Dabei ist die Netzstabilität eine der größten Baustellen.

Als hätte man es Monate zuvor schon gewusst, lud Becker Büttner Held einen Tag vor dem Energiegipfel im Kanzleramt zum Parlamentarischen Abend in den Kaisersaal der Parlamentarischen Gesellschaft ein. Das Thema des Parlamentarischen Abends war die Vielzahl an verschiedenen, teils sehr innovativer Ideen, um das Netz stabil zu halten. Parallel schmiedeten die Übertragungsnetzbetreiber und Fernleitungsbetreiber an den großen Netzentwicklungsplänen (NEP) (siehe unser Blog v. 1.6.2012). Dass das Thema interessiert, sah man beim Parlamentarischen Abend: Trotz strahlenden Sonnenscheins wollten sich über 200 Teilnehmer, darunter Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen, Energieversorger, Industrieunternehmen, Verbände und Behörden die Gelegenheit nicht entgehen lassen, in reger Diskussionsrunde nach Lösungen für diese enormen Herausforderungen zu suchen.

Kupferplatte oder lieber mutige Vielfalt?

Am Ende des Abends stand eine (vielleicht) banale Erkenntnis im Mittelpunkt: Es gibt viele Ansätze, manche gehen parallel, manche interagieren miteinander, manche würden sich ausschließen. Es entsteht eine Matrix von Möglichkeiten, die geordnet werden muss. Das weitere Gelingen des gewaltigen Projekts der Energiewende ist davon abhängig, dass diese Matrix erfolgreich navigiert werden kann.

Wollte man ein Bild von der Netzstabilität malen, könnte man den menschlichen Körper als Vorbild nehmen, genauer das Herz-Kreislauf-System. Das Herz pumpt Blut durch den Körper. Das Blut nimmt Sauerstoff an der Lunge auf und verteilt ihn dann an die Zellen im Rest des Körpers. Wenn das nicht mehr funktioniert, bedeutet das im Regelfall den Tod für den Menschen.

In diesem Bild wäre unser Herz ein Kraftwerk. Es muss genügend stark pumpen, um den Bedarf beispielsweise des Gehirns und der Muskeln zu befriedigen. Man kann den Herzmuskel trainieren, sogar einen Schrittmacher einsetzen, um die „Erzeugung“ zu stärken. Man kann die Adern, also die Leitungen verbreitern oder das Blut mit mehr Druck durchpumpen (unerwünscht, das wäre Bluthochdruck). Man kann den Verbrauch justieren, indem man sich weniger anstrengt. Auch kann der Verbrauch effizienter werden, indem die Muskeln so trainiert werden, dass sie mit weniger Sauerstoff mehr Leistung bringen können. Man kann Höhentraining machen, um das Blut zu „ertüchtigen“. Es könnte einen Notfall-Lastabwurf geben, also eine Ohnmacht des Körpers. Tatsächlich könnte das Kreislaufsystem sogar extern unterstützt werden. In diversen Sportarten wurde das sog. Eigenblutdoping durchaus geschätzt.

Das Bild zeigt, wie sensibel das System ist. Jede Anpassung des Energiesystems ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein „Eingriff am offenen Herzen“. Man wird das aber riskieren – wenn der Patient überleben soll.

Was lehrt uns das? Man sollte über alle Möglichkeiten nachdenken.

Auf der Ebene des Netzes (der Adern) wird man auf jeden Fall über Netzausbau und Netzumbau reden müssen. Die NEPs sind hier erste Aufschläge, die sicherlich Investitionen in die Infrastruktur folgen lassen. Aber auch die Infrastruktur der Verteilnetze muss und soll verbessert werden. Denn immerhin sind 95 Prozent der Erneuerbaren Energien bereits heute an Verteilernetze angeschlossen. Und das wird – abgesehen von Offshore Windparks – auch so bleiben. Auch der Einsatz von intelligenten Zähler- und Messsystemen und das Konzept zellulärer Netze kann dazu dienen, das Netz effizienter zu machen.

Bleibt man im Bild, muss man auch über die Muskeln nachdenken, die den Sauerstoff verbrauchen. Die intelligenten Zähler bzw. Fernsteuerungen sind Voraussetzung dafür, dass man den Verbrauch besser an die Erzeugung anpassen kann. Auch das ist ein Thema, welches ganz neue Bedeutung erlangt, wobei die Muskeln sowohl in Privathaushalten mit Wärmepumpe und E-Mobil als auch in Industrieunternehmen oder Kühlhäusern bestehen könnten.

Am Ende muss man sich vielleicht aber doch vom Bild des Körpers trennen. Denn ein Körper ist ja fast notgedrungen autark. Die Energieversorgung und damit auch die Energiewende ist aber inzwischen eine europäische Aufgabe. So betonte auch Wolfgang Anzengruber, Generaldirektor der österreichischen Verbund AG, dass eine enge europäische Zusammenarbeit und ein europäischer Markt für die Gewährleistung der Netzstabilität in Zukunft genauso wichtig werden wie das richtige Maß an nationaler Regulierung. Bluttransfusionen? Nein, viel mehr: Die Kreisläufe unserer Nachbarn und uns sind bis zu einem gewissen Grad bereits zu einem System zusammen gewachsen. Dies sollte man nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance begreifen, weil es Sicherheit und Redundanz gibt – und vielleicht sogar die volkswirtschaftliche Wohlfahrt erhöht.

Und was passiert mit dem Markt?

Doch damit sind die Ideen noch lange nicht erschöpft. Denn neben der Vielfalt an Netzstabilitätsmaßnahmen muss auch der Markt das seine tun, damit das Netz stabil bleiben kann. Immer mehr Stimmen argumentieren, dass ein Energy-Only-Markt – so wie er momentan existiert – den veränderten Anforderungen der Energiewende nicht gerecht werden kann. Das BMWi hat vergangenen Monat mit der Vorlage einer ewi-Studie die Diskussion um das neue Strommarktdesign angestoßen, und bei dem Parlamentarischen Abend wurde diese Diskussion mit Leidenschaft geführt. Entscheiden Sie selbst: Ist das im Bild des Körpers ein Herzschrittmacher, eine Kneipp-Kur oder eine ganz moderne Nanotechnologie?

Diese Unsicherheit, dieses nicht einschätzen können, bestimmt die augenblickliche Wahrnehmung der Diskussion: Insbesondere die Ausgestaltung und Finanzierung so genannter Kapazitätsmechanismen sorgt für reichlich Debattenstoff – das war auf dem Parlamentarischen Abend nicht anders. Denn hier muss schnell gehandelt werden. Da Reservekraftwerke einen erheblichen Beitrag zur Netzstabilität leisten sollen, sich aber nicht selbst über den Markt finanzieren können, müssen neue Marktmechanismen etabliert werden, um die Wirtschaftlichkeit dieser Kapazitäten zu gewährleisten. Aber auch die Rolle der alten Kraftwerke im neuen Strommarkt muss zügig geklärt werden, um Versorgungsengpässe im kommenden Winter zu vermeiden. Auf Behördenseite sieht man allerdings die Dinge weniger marktorientiert. Die Bundesnetzagentur (BNetzA) scheint den direkten Weg zu bevorzugen: ein gesetzliches Verbot von Stilllegungen. Ob marktorientiert oder die „staatliche Keule“, eine Entscheidung wird auf jeden Fall nicht lange auf sich warten lassen. Denn der ein oder andere Kraftwerksbetreiber macht sich geradezu einen Sport daraus, mit Stilllegungen zu drohen, so dass der Gesetzgeber dieses Thema kaum länger ignorieren kann.

Alles in allem ein aufschlussreicher Abend

An welchem Punkt des Körpers nun angesetzt wird, um die Energiewende (die ja auch eine Menge mit guter Luft zu tun hat) zu Erfolg zu bringen, wird sich in Zukunft herausstellen. Fakt ist, dass Themen rund um Netzstabilität alle Beteiligten intensiv betreffen. Denn auch nachdem die Sonne längst untergegangen war, die Temperaturen langsam unter die 30-Grad-Celsius-Marke gesunken waren und die Kronleuchter im Kaisersaal zu leuchten begannen, wurde immer noch angeregt darüber diskutiert, wie man verhindert, dass man vielleicht schon beim nächsten gemeinsamen Abend im Dunkeln sitzen muss.

Ansprechpartner: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Christian Dessau

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