Schattenseiten des Monopols – Gericht erklärt bestimmte Bahnhofs-Entgelte für unverbindlich. Millionenansprüche für Bundesländer?

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Auch das Geschäftsgebaren staatseigener Marktbeherrscher unterliegt rechtlichen Grenzen – oft sogar besonders engen, denn wer besonders viel Marktmacht auf sich vereinigt, muss auch entsprechend viel Verantwortung für faire Marktbedingungen schultern. Das zeigte sich vor wenigen Tagen in zwei aktuellen Entscheidungen des Kammergerichts (KG) vom 29.10.2012, den ersten und entscheidenden Urteilen eines Oberlandesgerichts zu den Entgeltsystemen des Bahn-Konzerns für die Nutzung von Personenbahnhöfen.

Teure Bahnhöfe

Die Jahreswende 2004 auf 2005 brachte für alle Rechtsträger, die für den Personennahverkehr auf der Schiene (SPNV) verantwortlich sind und dessen Kosten zu tragen haben, ein böses Erwachen. Pünktlich zum 1.1.2005 änderte die Bahn  fundamental ihr System, sich die Nutzung von Personenbahnhöfen bezahlen zu lassen. Derartige Nutzungsentgelte fallen jedes Mal an, wenn ein Zug an einem Bahnhof hält. Die nahezu einzige Betreiberin von Personenbahnhöfen im Bundesgebiet ist die DB Station & Service AG, eine 100-prozentige Tochter der DB AG im Geschäftsfeld „DB Netze“; sie ist Herrin über 5.400 Bahnhöfe, Haltestellen und Haltepunkte, die zum Ein- und Aussteigen von Reisenden bestimmt sind. Jedes Unternehmen, das Beförderungsleistungen auf der Schiene anbietet, ist also essentiell auf die Leistungen der DB Station & Service angewiesen: Ohne Zugang zum Bahnhof kein Eisenbahnverkehr!

Für diesen Zugang verlangt die Bahn seit 1999 eine Art Eintrittsgebühr – das Stationsnutzungsentgelt. In den ersten Jahren war die Methode der Berechnung dieser Stationsnutzungsentgelte relativ logisch und nachvollziehbar aufgebaut: Sie richtete sich allein nach den individuellen Kosten des konkret angefahrenen Bahnhofs und der Anzahl der Zughalte, letztere gewichtet nach Zuglängenklassen. So blieb es bis Ende des Jahres 2004. Bis dahin konnten die Verkehrsunternehmen die Preise für Haltevorgänge an „ihren“ Bahnhöfen einigermaßen nachvollziehen, und über diese Preise wurde wenig gestritten. Für die Bahn als Infrastrukturbetreiberin war der administrative Aufwand allerdings erheblich. Es gab nämlich ebenso viele verschiedene Preise wie Bahnhöfe: 5.400 Stück.

Das Ziel, den Verwaltungsaufwand zu vermindern, war deshalb einer der maßgeblichen Gründe für die Bahn, ihre Preisberechnungsmethodik zum 1.1.2005 radikal zu ändern. Das Stationspreissystem 2005 (SPS 2005) war nur noch im Ansatz kostenbasiert, hatte aber mit den Kosten der konkret genutzten Bahnhöfe nichts mehr zu tun. Abgerechnet wurden jetzt Preise für bestimmte Kategorien von Bahnhöfen, die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausfielen. Sämtliche Personenbahnhöfe eines Bundeslandes wurden in sechs Kategorien eingeteilt. Aus den Kosten, die tatsächlich für alle Bahnhöfe einer bestimmten Kategorie angefallen sind und einer gewichteten Nutzungskomponente wurden nach einem nicht weiter offengelegten Algorithmus „Zielkosten je Kategorie und Bundesland“ errechnet. Diese wurden durch die Anzahl der angemeldeten fahrplanmäßigen Haltevorgänge geteilt, und das ergab dann den Einheitspreis pro Zughalt an den Bahnhöfen einer bestimmten Kategorie für das jeweilige Bundesland. Anbieter von Eisenbahnbeförderungsleistungen bezahlten seither also nicht mehr für die von ihnen tatsächlich angefahrenen Bahnhöfe, sondern sie bezahlten anteilig die Kosten aller Bahnhöfe einer bestimmten Kategorie in ihrem jeweiligen Bundesland.

Schon die Zuordnung der Bahnhöfe zu diesen Kategorien war in hohem Maße intransparent und hing von einer Reihe scheinbar frei gewählter quantitativer Faktoren ab. Welche Kosten im Einzelnen den Bahnhöfen zugeordnet wurden und ob tatsächlich alle öffentlichen Investitionszuschüsse davon abgezogen wurden, hat die DB Station & Ser­vice nie offengelegt. Ferner blieb völlig unklar, warum es nur zwei Zuglängenklassen gab und ab einer Zuglänge von 181 Metern lediglich der doppelte Einheitspreis zu bezahlen war. Nahverkehrszüge kommen meistens auf nicht mehr als 90 Meter Länge, halten aber wesentlich häufiger und verursachen bei weitem nicht die Infrastrukturkosten des Fernverkehrs.

Sechs Rebellen

Schon diese Ungereimtheiten wären Grund genug gewesen, das SPS 2005 nicht zu akzeptieren. Aber die Umstellung auf das neue Preissystem führte vor allem im wirtschaftlichen Ergebnis für die Verkehrsunternehmen zu einer Preissteigerung von mehr als 200 Prozent gegenüber 2004 – vor allem bei den kleineren Bahnhöfen und Haltepunkten, die fast ausschließlich im Nahverkehr angefahren werden.

Sechs Eisenbahnverkehrsunternehmen, die nicht zum DB-Konzern gehören und hauptsächlich im Nahverkehr tätig sind, ließen sich eine derart dramatische – und rechnerisch nicht nachvollziehbare – Preissteigerung nicht gefallen. Sie stellten im Jahr 2007 ihre Zahlungen entweder vollständig ein oder kürzten ihre Stationsnutzungsentgelte auf das konkret kostenorientierte Niveau des Jahres 2004. Damit wiederum konnte sich begreiflicherweise die DB Station & Service nicht abfinden und erhob im Jahr 2008 Klage auf Zahlung der Differenzbeträge zwischen tatsächlich geleisteten Zahlungen und den nach SPS 2005 in Rechnung gestellten Entgelten.

In der ersten Instanz hat DB Station & Service zunächst sogar die meisten Klagen gewonnen, denn anders als bei der Parallelproblematik der Trassenpreise lehnten die Gerichte erster Instanz es bis Ende 2011 ab, die Angemessenheit der Stationsnutzungsentgelte zivilrechtlich am Maßstab des § 315 BGB zu prüfen. § 315 BGB verlangt von Unternehmen, die einseitig ihre Preise festsetzen können, dass sie die „Billigkeit“ ihrer Preisforderungen im Einzelfall verständlich erklären und durch Offenlegung der Berechnungsgrundlagen beweisen. Im Anwendungsbereich von § 315 BGB muss also nicht das Verkehrsunternehmen darlegen, wo die Defizite des SPS 2005 liegen, sondern die DB Station & Service ist verpflichtet, ihr Stationspreissystem nachvollziehbar zu erklären und zu rechtfertigen. Aus dieser Umkehr der Darlegungslast wird verständlich, warum die betroffenen Verkehrsunternehmen fast vier Jahre lang um die Anwendbarkeit des § 315 BGB gestritten haben. Zunächst ohne Erfolg, denn jede damit befasste Zivilkammer folgte der Behauptung der Bahn, dass die zivilrechtliche Billigkeitskontrolle (§ 315 BGB) neben der Aufsicht der Bundesnetzagentur (BNetzA) nach Eisenbahnrecht (§§ 14 ff. AEG) keine Anwendung finde.

Die Wende kam erst mit einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 18.10.2011 – KZR 18/10 (zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Jung). In dem dortigen Verfahren hatte die DB Netz AG die Stornierungsentgelte im Trassenpreissystem 2008 einseitig erhöht. Der BGH hat in diesem Urteil deutlich herausgearbeitet, dass neben der eisenbahnrechtlichen Regulierung durch die BNetzA sowohl materiell-rechtlich als auch aus verfahrensrechtlichen Gründen sehr wohl ein eigenständiger Regelungsinhalt für § 315 BGB bleibt, und die Norm auf Trassenpreissysteme deshalb ohne weiteres Anwendung findet. Von da aus war der Schritt, die Stationsnutzungsentgelte nach ebenfalls § 315 BGB zu kontrollieren, nicht mehr weit. Bereits das LG Berlin folgte kurz danach in drei Urteilen zum SPS 2005 (Urt. v. 28.2.2012 – Az. 16 O 29/11 Kart; Urt. v. 13.9.2012 – Az. 90 O 56/11; Urt. v. 19.9.2012 – Az. 38 O 271/11) dieser Linie. Das Ergebnis war einhellig: Da die Bahn für das Gericht ihre Preise weder hinreichend transparent noch sachlich einleuchtend erklärt hatte, konnte nur die Unbilligkeit des SPS 2005 festgestellt werden. Die darauf gegründeten Entgeltforderungen waren damit unverbindlich.

Das Blatt wendet sich

Die endgültige Absicherung dieser neuen Rechtsprechungslinie brachten allerdings erst die beiden Berufungsurteile des Kammergerichts vom 29.10.2012 (2 U 10/09 Kart und 2 U 17/09 Kart). Beide Verfahren, die denselben Sachverhalt betrafen, waren noch in der ersten Instanz gegen die beklagten Verkehrsunternehmen entschieden worden. Beide legten dagegen Berufung ein, und unter dem Eindruck der BGH-Rechtsprechung wendete sich das Blatt. Die schriftlichen Entscheidungsgründe liegen zwar noch nicht vor. In der mündlichen Verhandlung stellte der Vorsitzende des Kartellsenats am Kammergericht aber unmissverständlich klar, dass die BGH-Linie zu § 315 BGB ohne weiteres auch auf Stationsnutzungsentgelte der Bahn übertragbar sei. Auf das Gegenargument der DB Station & Service, die eisenbahnrechtliche Regulierung lasse keinen Raum für eine zivilrechtliche Billigkeitsprüfung, verwies der Vorsitzende auf die Besonderheiten des Regulierungsverfahrens nach dem AEG, das wesentlich schwächer ausgestaltet sei als in anderen regulierten Industrien. Die beschränkten Prüfungsmöglichkeiten der BNetzA hinterlassen ein unerträgliches Gerechtigkeitsdefizit, das den Nutzern der Eisenbahninfrastrukturen nicht zugemutet werden könne. Daher besteht im Bereich der Eisenbahn ein gesteigertes Bedürfnis nach Ergänzung der öffentlich-rechtlichen Regulierung durch eine zivilrechtliche Kontrolle am Maßstab des § 315 BGB.

Eine Preissteigerung innerhalb von zwei aufeinander folgenden Jahren um mehr als 200 Prozent liefere an sich bereits ein Indiz für Unbilligkeit. Es wäre dann Sache der Bahn gewesen, die Angemessenheit ihres SPS 2005 durch Sachvortrag zu belegen. Dieser Darlegungslast sei sie aber in keiner Weise nachgekommen. Damit konnte nur die Unbilligkeit und damit Unverbindlichkeit der klägerischen Forderungen festgestellt werden. Die DB Station & Service konnte ihre vermeintlichen Ansprüche auf Zahlung ausstehender Entgelte nach dem SPS 2005 nicht durchsetzen. Für die Zukunft ist vielleicht noch wichtiger, dass in einem der beiden Verfahren es einer Beklagten gelang, mit einer Widerklage auch in der Vergangenheit überhöht bezahlte Stationsnutzungsentgelte zurückzuverlangen.

Dreistellige Millionenansprüche für Bundesländer?

Für alle Rechtsträger, die in der Vergangenheit unmittelbar oder mittelbar die Stationsentgeltforderungen der Bahn auf der Grundlage des SPS 2005 in voller Höhe erfüllt haben, besteht jetzt also die realistische Möglichkeit, den unangemessenen Teil ihrer Zahlungen zurückzufordern. Das betrifft nicht so sehr die einzelnen Eisenbahnverkehrsunternehmen, die den Weg vor dem Kammergericht freigekämpft haben, sondern in erster Linie die Bundesländer. Aufgabenträger für den SPNV sind die Bundesländer und sie sind es, die über Bruttoverträge mit den beauftragten Verkehrsunternehmen sämtliche Infrastrukturkosten – einschließlich der überhöhten – in der Vergangenheit getragen haben. Seit dem 29.10.2012 besteht eine gesicherte Basis, diese zum Teil zurückzuverlangen.

Gesichert ist die Basis deshalb, weil jedes weitere Stationspreisverfahren unweigerlich wieder beim Kammergericht – und wahrscheinlich bei demselben Senat – landen wird. Die Bahn hat nämlich in ihren Verträgen, auf die sie ihre Forderungen stützt, mit ganz wenigen Ausnahmen stets als Gerichtsstand Berlin vereinbart.

In Zeiten, in denen der Fortbestand der Regionalisierungsmittel unsicher geworden ist, können weder die Länder noch die Eisenbahnverkehrsunternehmen sich leisten, für Infrastrukturnutzung höhere Preise zu bezahlen, als rechtmäßigerweise geschuldet. Für die Bundesländer geht es dabei nicht nur um einige Haltepunkte an einer Regionalstrecke, sondern um sämtliche Bahnhöfe auf ihrem Territorium. Pro Jahr dürfte es sich dabei um dreistellige Millionenbeträge handeln – Beträge, die aus Steuergeldern stammen.

Man könnte versucht sein, zu prüfen, ob auf gesicherter Rechtsgrundlage jetzt nicht sogar eine Verpflichtung zur Rückforderung besteht. Mit relativ einfachen rechtlichen Schritten vor Jahresende ist das gesamte Jahr 2009 noch vor der Verjährung zu retten. Zumindest an verjährungshemmenden Maßnahmen führt jetzt kein Weg mehr vorbei.

Ansprechpartner: Dr. Christian Jung/Tillmann Specht

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