Zusammen sind wir stark? EU-Kommission nimmt neuen Anlauf zur Einführung von Kollektivklagen

(c) BBH
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Verbraucher und Unternehmen sollen künftig mit Kollektivklagen gegen EU-Rechtsverstöße vorgehen dürfen. Das geht aus einem Maßnahmenpaket hervor, das die EU-Kommission im Juni 2013 vorstellen will und über das in den Medien bereits vereinzelt berichtet wurde. Die EU-Mitgliedstaaten werden darin aufgefordert, auf nationaler Ebene zu ermöglichen, dass sich viele Geschädigte gemeinsam mit kollektiven Unterlassungs- und Schadensersatzklagen gegen Verstöße gegen EU-Recht zur Wehr setzen können. Die EU-Kommission beschränkt sich in ihrem Paket zunächst auf eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten, droht aber zugleich mit verbindlichen Vorgaben, wenn die empfohlenen Maßnahmen nicht innerhalb von vier Jahren eingeführt werden. Nur im Wettbewerbsrecht will sie einen anderen Weg gehen und verbindliche Vorgaben machen, ohne dabei aber so weit zu gehen, den Mitgliedstaaten die Einführung von Kollektivklagen verbindlich vorzuschreiben.

Das Maßnahmenpaket der EU-Kommission sieht einen unverbindlichen europäischen Rahmen für die Einführung von Kollektivklagen vor (collective redress). So sollen Geschädigte auch bei relativ geringen Schäden – etwa bei Verstößen gegen das Verbraucherschutzrecht – einen Anreiz erhalten, ihre Interessen durchzusetzen. Für den einzelnen Geschädigten stehen Aufwand und Risiko eines Prozesses ansonsten nicht im Verhältnis zu dem entstandenen Schaden. Der Geschädigte wird daher regelmäßig von einer Klage absehen, weil sich sein Vorgehen nicht bezahlt macht. Wenn sich dagegen das Prozessrisiko auf eine Vielzahl von Schultern verteilt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass EU-Rechtsverstöße auch tatsächlich vor Gericht gebracht werden.

Kollektiver Rechtschutz in Europa und Deutschland

Auf europäischer Ebene wird die Einführung von Kollektivklagen schon seit langem diskutiert. Die EU-Kommission stellte in ihrem Weißbuch von 2008 zum kollektiven Rechtschutz im Kartellrecht drei Ausgestaltungsmöglichkeiten vor: Zunächst gibt es die Möglichkeit einer Verbandsklage. Kläger sind hier Verbraucherverbände, staatliche Institutionen oder berufsständische Organisationen, die ermächtigt werden, für eine Gruppe von Einzelpersonen Klage zu erheben. Dies ist in Deutschland derzeit nur in vereinzelten Fällen möglich, etwa nach § 33 Abs. 2 GWB (Unterlassungsklagen von Verbänden zur Förderung gewerblicher oder selbständiger beruflicher Interessen), § 8 UWG (Unterlassungsklagen bei Verstoß gegen das Verbot unlauteren Wettbewerbs) oder § 64 BNatSchG (naturschutzrechtliche Vereinsklage). Die Alternative ist die Sammelklage: Dabei können sich entweder einzelne Geschädigte zusammenschließen und ihre jeweiligen Ansprüche in einer so genannten Opt-in-Gruppenklage bündeln. Oder, und das ist die dritte Möglichkeit, man erhebt eine Sammelklage als Opt-out-Klage – auch das gibt es in einigen EU-Mitgliedstaaten. Danach können einzelne Geschädigte stellvertretend für alle Opfer klagen, es sei denn sie entscheiden sich dagegen.

In Deutschland gibt es gegenwärtig an einzelnen Stellen Verbandsklagemöglichkeiten. Außerdem gibt die gemeinsame Prozessführung bei der Streitgenossenschaft, wenn die Kläger hinsichtlich des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stehen oder aus demselben tatsächlichen oder rechtlichen Grund berechtigt sind (§§ 59 ff. ZPO). Eine andere Möglichkeit ist die Prozessverbindung (§ 147 ZPO).

Die Empfehlung der Kommission: Auf dem Weg zu einer „Klageindustrie“?

Die ersten Kommissionsinitiativen stießen auf heftige Kritik auch in Deutschland und Frankreich sowie bei der Wirtschaft und wurden daher zunächst auf Eis gelegt. Jetzt drängt die EU-Kommission aber auf konkrete Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Ihren jüngsten Vorstoß begründet sie damit, dass die unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten dazu führen können, dass das Recht unterschiedlich angewandt wird und so den Wettbewerb verzerrt. Daher sei ein einheitlicher, wenngleich zunächst unverbindlicher Rahmen nötig.

Nach dem Maßnahmenpaket sollen die Mitgliedstaaten bei EU-Rechtsverstößen Kollektivklagen in Form von Verbandsklagen einführen, der sich einzelne Geschädigte ausdrücklich anschließen können. Die Klageberechtigung liegt insoweit bei Verbänden. Von dem Grundsatz des opt in darf nur in Ausnahmefällen abgewichen werden. Die Mitgliedstaaten sollen ferner ausschließen, dass Anwälte bei Kollektivklagen eine erfolgsabhängige Vergütung erhalten. Wird Schadensersatz verlangt, soll dieser nur den tatsächlich verursachten Schaden abdecken und nicht darüber hinausgehen. Außerdem soll in bestimmten Fällen verboten werden, Kollektivklagen durch Dritte finanzieren zu lassen. Schließlich soll auch bei Kollektivklagen der Grundsatz gelten, dass die unterlegene Partei die Verfahrenskosten zu tragen hat. Mit diesem Bündel von Empfehlungen will die EU-Kommission der Entstehung einer „Klageindustrie“ vorbeugen.

Horizontaler Ansatz, wichtige Detailfragen von den Mitgliedstaaten zu regeln

Die EU-Kommission wählt in ihrem Maßnahmenpaket keinen sektorspezifischen, sondern einen horizontalen Ansatz. Danach gelten die Empfehlungen  für alle Fälle, in denen eine Gruppe von natürlichen oder juristischen Personen eine Verletzung von EU-Rechten geltend machen will. Nur für Kollektivklagen im Bereich des Wettbewerbsrechts gelten besondere Bestimmungen. In der Praxis dürfte das Instrument vor allem bei Verstößen gegen Verbraucherschutz- und Umweltschutzvorschriften eine große Rolle spielen, in Situationen also, in denen typischerweise eine Vielzahl von Personen bei vergleichsweise geringem individuellen Schaden betroffen sind. Auch Verstöße gegen die zunehmend wichtigeren Datenschutzvorschriften kommen als Spielfeld von Kollektivklagen in Betracht. In diesen wie auch in allen anderen Bereichen ist nach den Kommissionsempfehlungen erforderlich, dass ein subjektives EU-Recht einer Vielzahl von natürlichen oder juristischen Personen betroffen ist. Die weitere Ausformung dieser Vorgaben wird den Mitgliedstaaten überlassen.

Der Kommission zufolge sollen die Mitgliedstaaten vorab nach klaren Kriterien festlegen, welche Vereinigungen oder Verbände befugt sind, im Namen der Geschädigten Kollektivklagen zu erheben, und diese offiziell benennen. Nicht benannte Organisationen dürfen keine Kollektivklage erheben. Die Empfehlungen der Kommission beschränken sich hier auf allgemeine Anforderungen. Die Mitgliedstaaten sind daher aufgerufen, weitere Details zur Klageberechtigung zu regeln. Darüber hinaus sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass potenziellen Geschädigten ausreichende Informationen zur Verfügung stehen, damit diese sich entscheiden können, ob sie sich der Kollektivklage anschließen.

In Bereichen, in denen eine Behörde Verstöße gegen EU-Recht verfolgt, sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass kollektive (Follow-on-)Klagen erst möglich sind, wenn das behördliche Verfahren verbindlich abgeschlossen ist. Die öffentliche Rechtsdurchsetzung soll grundsätzlich vorrangig vor der privaten Rechtsdurchsetzung bleiben.

Eine wichtige Rolle spielt nach den Vorstellungen der EU-Kommission die alternative Streitbeilegung. Die Empfehlungen reichen zwar nicht so weit, dass alternativen Streitbeilegungsverfahren Vorrang eingeräumt wird. Allerdings sollen die Mitgliedstaaten die Parteien in jeder Lage des Rechtstreits ermutigen, nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen. Die Vorgaben der Mediationsrichtlinie 2008/52/EG sollen dabei beachtet werden.

Die EU-Kommission will zeitgleich mit ihren Empfehlungen zu Kollektivklagen eine Richtlinie zu Schadensersatzansprüchen in Wettbewerbsverfahren vorlegen. Hier sind aber noch einige Details nicht endgültig geklärt. Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens weiterhin selbst entscheiden dürfen, ob sie eine generelle Kollektivklagemöglichkeit in Wettbewerbsverfahren bereitstellen. Ansonsten wird es, wie Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia im Dezember 2012 ankündigte, in der Richtlinie vor allem darum gehen, einen angemessenen Ausgleich zwischen Kronzeugenschutz und den damit zusammenhängenden Rechten einerseits und  Akteneinsichtsrechten und möglichen Schadensersatzansprüchen andererseits sicherzustellen.

Wie geht es weiter?

Ob sich der Rat dem Vorschlag der Kommission anschließen wird, bleibt abzuwarten. Angesichts der seit 2008 laufenden kontroversen Diskussionen dürfte es nicht überraschen, wenn die Mitgliedstaaten den Kommissionsvorschlag nicht einfach „durchwinken“. Immerhin betrifft die Initiative den sensiblen Bereich der Justiz, in dem die Mitgliedstaaten Supranationalisierungs- und Harmonisierungsbestrebungen traditionell mit Skepsis begegnen. Dies gilt selbst dann, wenn es „nur“ um Empfehlungen und nicht um verbindliche Vorgaben geht. Denn auch Empfehlungen können indirekt rechtliche Wirkung erzeugen.

Davon abgesehen bietet der Kommissionsvorschlag in einigen Punkten Anlass zur Kritik. Dies betrifft zunächst die Frage, ob ein horizontales kollektives Klageinstrument überhaupt notwendig ist. Die Mitgliedstaaten halten bereits ein breites Portefeuille an Regelungen zur Kollektivklagen bereit, die zum Teil auf EU-rechtlichen Vorgaben beruhen. Auch die potenzielle Reichweite von Kollektivklagen kann sich als Problem herausstellen. Das Instrument soll Geschädigten einen Unterlassungs- und Schadensersatzanspruch für die Verletzung von Unionsrecht verschaffen. Damit besteht die Gefahr, dass der Anwendungsbereich dieses Instruments ausufert. Schließlich dürfte – um nur noch einen Kritikpunkt zu nennen – die Veröffentlichung von Informationen über (laufende) Kollektivklagen zwar die Durchschlagskraft des Instruments erhöhen. Die betroffenen Beklagten dürften sich hier aber schon vorab an den Pranger gestellt fühlen, bevor überhaupt feststeht, ob ein Unterlassungs- und/oder Schadensersatzanspruch besteht. Gerade für Unternehmen kann dies zu irreversiblen Reputationsverlusten führen.

Ansprechpartner: Dr. Dörte Fouquet

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