Sind Urlaubsabgeltungsansprüche vererblich? – Eine arbeitsrechtliche Achterbahnfahrt

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(c) Martin Beckmann

Achterbahnfahren passt zur Oktoberfestzeit. An dieses luftig-schaurige Vergnügen fühlt sich erinnert, wer das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 20.9.2011 zum Urlaubsrecht zur Kenntnis nimmt (Az. 9 AZR 416/10). Makabererweise geht es dabei um den Tod des Arbeitnehmers bzw. um die Frage, was dann aus seinem nicht genommenen Urlaub wird.

Urlaub, der wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr tatsächlich genommen werden kann, ist als zusätzliche Geldleistung abzugelten (§ 7 Abs. 4 BUrlG). Wenn der Arbeitnehmer stirbt, so galt lange der eherne Grundsatz, dass offene Urlaubsansprüche verfallen: Die Erben haben nichts davon. Jahrzehntelang behandelte das BAG den Urlaubsabgeltungsanspruch als bloßes „Surrogat“ der tatsächlichen Urlaubsgewährung, das voraussetzt, dass eine Urlaubsgewährung in Natur ohne die Beendigung des Arbeitsverhältnisses überhaupt noch erfüllbar wäre. Nicht nur bei Tod, sondern auch bei Arbeitsunfähigkeit über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus lehnte das BAG einen Urlaubsabgeltungsanspruch in ständiger Rechtsprechung ab.

Im nun entschiedenen Fall hatte die Witwe und Erbin eines am 16.4.2009 verstorbenen Arbeitnehmers die Abgeltung der offenen Urlaubsansprüche aus den Jahren 2008 und 2009 verlangt, die dieser wegen seiner seit 2008 durchgehend bestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht mehr in Natur einbringen konnte.

Erstinstanzlich wurde die Klage durch das Arbeitsgericht Bocholt noch in Einklang mit der oben dargestellten Rechtsprechung abgewiesen. Mit einem grundlegenden, aufsehenerregenden Urteil vom 20.1.2009 (Gerhard Schultz-Hoff – Rs. C-350/06) entschied der EuGH allerdings, dass gesetzliche Urlaubsansprüche trotz lang andauernder Arbeitsunfähigkeit nicht verfallen können. Infolgedessen verabschiedete sich auch das BAG mit Urteil vom 24.3.2009 (Az. 9 AZR 983/07) von der „Surrogationstheorie“ und ließ das Merkmal der Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs als Voraussetzung für einen Urlaubsabgeltungsanspruch fallen.

Daraufhin hob das LAG Hamm im genannten Fall das Ersturteil des Arbeitsgerichts Bocholt auf (16 Sa 1502/09) und sprach der Witwe nun die Urlaubsabgeltung zu. Dieses Urteil des LAG Hamm wurde vielfach als konsequente Fortführung der vorangegangenen Rechtsprechungsänderung angesehen, nach der es unter Aufgabe der alten Surrogationstheorie ja gerade nicht mehr auf eine Erfüllbarkeit des Urlaubs ankommen soll. Demnach galt die Urlaubsabgeltung mit Veröffentlichung dieses Urteils als nun doch vererblich.

Zur Überraschung vieler hob das BAG am 20.9.2011 das Urteil des LAG Hamm nun seinerseits auf und wies die Ansprüche der Witwe zurück: Was bei Langzeiterkrankten gilt, muss bei Verstorbenen noch lange nicht gelten. Beim Tod des Arbeitnehmers soll der Urlaubsanspruch weiterhin ohne Umwandlung in einen Abgeltungsanspruch erlöschen.

Auch wenn die schriftliche Urteilsbegründung noch aussteht, ist zu befürchten, dass die Achterbahnfahrt damit noch nicht zu Ende ist. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die deutschen Arbeitsgerichte schon bald durch den nächsten Looping schickt. Wir wünschen allen Beteiligten viel Vergnügen – und Schwindelfreiheit.

Ansprechpartner: Dr. Jost Eder/Bernd Günter/Wolfram von Blumenthal

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